Dienstag, 10. Juli 2007

Kreis ohne MittelpunktIch

Ich habe oft darüber nachgedacht, was so ein Wort wie "Wurzellosigkeit" eigentlich bedeutet. Anfangs, wenn ich von jemandem hörte oder las, er habe keine Wurzeln, konnte ich das gar nicht verstehen, und ich sagte zu mir: "Aber ein Mensch ist doch keine Pflanze." In Wahrheit jedoch ist der Mensch eine Pflanze. (...) Wir welken, wenn wir des Bodens beraubt sind, in dem wir Wurzeln treiben können, mögen diese auch noch so metaphorisch sein. (...) Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Generation den Inbegriff der Wurzellosigkeit vertritt. Was sie kennzeichnet ist das Schwinden, das Absterben der Verbundenheit. Die Stimmen der Eltern im Nebenzimmer sprechen nicht mehr. Ein jeder ist einzeln und allein. Einsam zu sein in der Menge ist der Fluch meiner Zeitgenossen gewesen. (...) Hätte ich mich als Kind gefragt, worin ich verwurzelt, womit ich verflochten sei - aber Kinder haben andere und größere Sorgen - so hätte ich wahrscheinlich geantwortet: in und mit meinen Eltern. Doch die Eltern sollten bald dahin gehen. Etwas älter, hätte ich vielleicht noch eine zweite Antwort gegeben und diese hätte trügerischerweise eine längeren Bestand versprochen. Denn über allem anderen hätte ich die Sprache genannt, die Sprache, in der meine Mutter zum Kind gesprochen hat. Doch meine Muttersprache ist zugleich mit meiner Mutter verbrannt. Als dies gegangen war, blieb nichts übrig.
Das Feuer des Heraklit (S. 62f)

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